Interview mit Lisei Caspers (Regie)

Wie sind Sie auf die Flüchtlinge in Strackholt aufmerksam geworden?

Ich war Weihnachten 2013 in der Christmesse in Strackholt, einem kleinen Dorf in Ostfriesland. Zum Abschluss erzählte der Pfarrer, dass fünf Flüchtlinge aus Afrika angekommen seien, die sich freuen würden, Anschluss an die Gemeinde zu finden. Und da dachte ich für mich ’Fünf Eritreer in Ostfriesland...wie soll das funktionieren?' Auf dem Nachhauseweg sahen wir mitten im Nichts ein kleines erleuchtetes Fenster und mein Vater erklärte mir, dass es das Mariechen-Heim sei, wo die Flüchtlinge wohnen. Ich war bestürzt. Am zweiten Weihnachtstag bin ich dann mit meinen Schwestern und einer Nachbarin dorthin gefahren. Wir haben Kuchen mitgebracht und wollten einfach hören, wie es ihnen geht und ob sie etwas brauchen. Das war die erste Begegnung, die sehr eindrücklich war. Alle Heizungen waren voll aufgedreht und die Männer kamen uns in kurzen Hosen und Badelatschen entgegen. Nach diesem ersten Besuch haben wir erst einmal warme Sachen und Schuhe für sie gesammelt.

Was waren Ihre besonderen Bedenken?

Ich glaube, die Eritreer sorgen erst einmal für eine Irritation. Ostfriesland ist als Re­gion homogen, vielleicht auch, weil es abgeschieden im äußersten Nordwesten von Deutschland liegt. In den Städten wie Leer und Wilhelmshaven ist das sicherlich noch einmal anders, aber so auf dem platten Land ist die Gesellschaft noch sehr in sich geschlossen. Jeder kennt jeden und die Menschen sind in ihren Traditionen verwurzelt. Und auf einmal kommt dieses Fremde, dieses Afrikanische dazu. Ich meine damit nicht, dass es ein grundsätzliches Problem gibt, weil ich die Ostfriesen als extrem offene Menschen erlebe und die Flüchtlinge haben bis heute auch keine schlechten Erfahrungen gemacht. Aber ich habe mich schon gefragt, wie das im Alltag funktionieren wird.

Sie hatten zuvor gerade zwei Jahre in Palästina gearbeitet. Hat Ihre eigene Erfahrung als Außenseiterin Ihren Blick auf die Flüchtlingssituation in Deutschland verändert?

Mit Sicherheit. Ich bin während meiner Zeit in Palästina in die arabische Kultur eingetaucht und habe viel gelernt. Und ich habe dadurch natürlich auch einen ganz anderen Blick auf unsere Kultur, unsere Lebensweise und Gesellschaft bekommen. Ich habe aber auch die Erfahrung gemacht, was es bedeutet, nicht Teil der Gemeinschaft zu sein. Und oft war ich auch überfordert, weil ich die Situation nicht verstanden habe. Es ist nicht leicht in einer völlig fremden Kultur zurechtzukommen, vor allem, wenn man die Sprache nicht beherrscht. Ursprünglich sollte es in meinem Film daher um das Thema Heimat gehen. Was bedeutet mir meine ostfriesische Heimat? Und was bedeutet Heimat für die Neuankömmlinge? Im Lauf der Dreharbeiten sind wir dann aber davon abgewichen, weil wir etwas anderes gefunden haben.

Sie haben also den Ansatz für den Film geändert?

Ja. Ursprünglich sollte Ostfriesland eine viel größere Rolle spielen. Während des Prozesses habe ich dann aber erkannt, dass die Kraft des Films nicht in der Ausein­andersetzung zwischen Ostfriesland und Afrika liegt. Viel wichtiger war, die Flüchtlinge zu begleiten und das Zusammenspiel von ehrenamtlichen deutschen Helfern und den Eritreern zu beleuchten. Das Thema Heimat rückte während des Schnitts in den Hintergrund.

War es sehr schwierig das Vertrauen der Flüchtlinge zu gewinnen?

Nachdem ich ein paar Mal bei den Flüchtlingen zu Besuch war, lernte ich dort Christiane kennen und war begeistert und auch überrascht, wie sie sich für die Menschen eingesetzt hat. Sie hat den Eritreern in allen Bereichen zur Seite gestanden und hat sie dreimal pro Woche besucht. Und dann kam Helmut noch dazu, der den Sprachunterricht übernommen hat. Auf seine liebevoll-burschikose Art hat er die Männer so akzeptiert, wie sie waren. Dieses Zusammenspiel, diese besondere Gruppenkonstellation, hat meine Neugierde geweckt und nach einer Weile entstand die Idee, einen Film zu drehen. Die Gruppe hat das zusammen entschieden. Anfangs waren alle Feuer und Flamme, aber je länger die Flüchtlinge auf ihren Asylbescheid warten mussten, desto zermürbender wurde es für alle Beteiligten. Es war kein leichter Prozess.

Wodurch zeichnet sich GESTRANDET besonders aus?

Ich wollte den Zuschauern die Möglichkeit geben, sich in die Situation der Flüchtlinge hineinzuversetzen, um besser zu verstehen, wie es sich anfühlt, als Asylbewerber nach Deutschland zu kommen. GESTRANDET ist daher ein sehr puristischer und beobachtender Film. Und ich wollte auch das Aufeinandertreffen der Neuankömmlinge und der Ehrenamtlichen beleuchten. Ich wollte ihr Engagement zeigen, aber auch die vielen Probleme und Missverständnisse, die sich in so einem Prozess auftun und dass die Gruppe trotz aller Schwierigkeiten nicht auseinandergebrochen ist. Das macht Hoffnung, die ich mit dem Film vermitteln möchte, besonders wenn man die aktuellen Flüchtlingszahlen anschaut und die Aufgabe, die noch vor uns liegt.

Nach Ende der Dreharbeiten sind Sie noch einmal nach Strackholt gefahren, weil Sie das Gefühl hatten, dass die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt war.

Wir haben die ursprünglichen Dreharbeiten an einem Punkt der absoluten Frustration beendet, wo die Männer schon über ein Jahr in Deutschland waren und noch immer keine Papiere hatten und diese Ungewissheit nicht mehr ertragen konnten. Auch Christiane und Helmut waren verzweifelt, weil sie nicht mehr wussten, wie sie noch helfen können. Wir haben dann im Schnitt gemerkt, dass das Ende der Geschichte in der Luft hing – wie die Flüchtlinge. Ich wollte aber nicht, dass die Menschen aus dem Film gehen und denken, Flüchtlingshilfe bringt nichts. Deshalb war es uns wichtig ein halbes Jahr später, nachdem alle ihre Anerkennung bekommen hatten, noch einmal mit den Flüchtlingen sprechen. So konnten wir den Prozess zu Ende erzählen und die Veränderungen zeigen. Denn sobald sie ihre Papiere hatten, ging es aufwärts. Sie haben einen Integrationskurs gemacht, sind weggezogen, haben neue Freundschaften geschlossen und Familien gegründet.

Sie sind 2007 beim Internationalen Filmfestival Hannover für Ihren Dokumentarfilm „Grenzgebiet – Spiritual Healing” mit dem „Deutschen Nachwuchsfilmpreis” und einer Patenschaft mit dem Produzenten Peter Rommel ausgezeichnet worden, der seither hilft, Ihre Filme zu realisieren. Was bedeutet Ihnen diese Zusammenarbeit?

Ich glaube, ohne Peter hätte ich keine Filme gemacht...

Aber Ihren ersten Film haben Sie doch ohne ihn gedreht?

Das stimmt. Aber den ersten Film habe ich nur gemacht, weil ich das Thema so interessant fand und unbedingt darüber berichten wollte. Ich habe ihn in Eigenregie realisiert und produziert, es steckte also kein berufliches Interesse dahinter. Eigentlich wollte ich Medizin studieren. Als der Film dann ausgezeichnet wurde und ich zum allerersten Mal Filmemacherin genannt wurde, musste ich lachen, weil ich mich überhaupt nicht so fühlte. Peter hat dann eine ganz neue Qualität in meine Arbeit gebracht. Der Preis war so ausgelegt, dass man den jungen Filmemachern für ihr nächstes Projekt einen Produzenten oder eine wichtige Person aus dem Filmgeschäft zur Seite stellt. Ich wollte aber eigentlich gar kein neues Projekt machen. Das war ein richtiges Dilemma. Bis ich mir sagte, wenn ich schon einen Paten habe, kann ich schließlich auch einen Film drehen und das wurde dann der Film „Fragments of Palestine”. Ich habe oft gedacht, dass ich ohne den Preis und ohne Peter nicht unbedingt weiter Dokumentarfilme gemacht hätte. Ich habe viel von ihm gelernt, nicht nur über das Business und den Job, sondern auch über das Leben.

Sie sind mit GESTRANDET noch einen entscheidenden Schritt weitergegangen und haben ihre Zusammenarbeit professionalisiert. Peter Rommel ist jetzt Ihr Produzent.

Genau. Dadurch hat sich unser Verhältnis verändert. Ich bin dankbar, dass ich so in die Arbeit hineinwachsen durfte und Zeit hatte, mich auszuprobieren und zu wachsen. Es ist für einen Anfänger total wichtig Feedback und Kritik zu kriegen, so dass man sein Auge schult und die eigene Herangehensweise überprüft. Jetzt trage ich die volle Verantwortung und das ist die neue Dimension in unserer Zusammenarbeit.

Welche Diskussion möchten Sie mit GESTRANDET anstoßen?

Ich möchte für das Schicksal der Flüchtlinge sensibilisieren, die jetzt zu Abertausenden ins Land kommen und unsere Umgangsweise mit ihnen hinterfragen. Und ich möchte einen Anstoß geben, was wir verändern können. In dem ich zeige, wie die Solidarität, mit der Helmut und Christiane den Menschen helfen, durch die Bürokratie auf eine harte Probe gestellt wird, will ich für dieses Problem Aufmerksamkeit erzeugen. Im Moment dreht sich die Diskussion hauptsächlich um die Erstversorgung und wie sie bewältigt werden kann. Wir werden aber langfristig mit den Flüchtlingen zusammenleben und müssen voneinander lernen, was wir erwarten können und sollen und wie wir es schaffen, solidarisch und respektvoll miteinander umzugehen.

Wie geht es Aman, Osman, Mohammed, Ali und Hassan heute?

Es geht ihnen viel besser, weil ihr Asylantrag bewilligt wurde und sie wieder Zuversicht und Hoffnung schöpfen können. Aman hat jetzt eine Familie. Hassan und Ali sind zusammen in die Stadt gezogen. Sie haben alle ihren Integrationskurs abgeschlossen und sind jetzt auf Jobsuche, was die nächste große Hürde ist. Osman hat bis jetzt noch in Strakholt gelebt. Ich arbeite aber daran, dass er eine Sprachschule für Gehörlose besuchen kann, damit er die deutsche Gebärdensprache lernt und so endlich eine Perspektive bekommt. Aber es dauert alles sehr lange... Mohammed ist auch weggezogen. Die Gruppe hat sich also aufgelöst, aber es geht allen gut.

Sind Helmut Wendt und Christiane Norda weiterhin aktiv in der Flüchtlingshilfe?

Ja, Helmut und Christiane sind unglaublich engagiert. Helmut ist nonstop in Sachen Flüchtlinge unterwegs – von morgens um acht bis abends um zehn. Beide haben den Asylkreis in Aurich mitgegründet und sind dort aktiv. Christiane betreut 18 Flüchtlinge, die sie vor allem in organisatorischen Angelegenheiten unterstützt, für die sie Jobs vermittelt, Studienmöglichkeiten herausfindet, Arztbesuche und vieles mehr organisiert. Beide haben nach wie vor Kontakt zu den Eritreer. Helmut hat ihnen bei der Wohnungssuche geholfen. Es ist wirklich enorm, was die beiden leisten.

Welche Veränderungen in der Flüchtlingspolitik halten Sie nach diesen Erfahrungen für notwendig?

Die Abläufe müssen viel schneller werden, damit die Menschen schneller eine Chance auf Integration haben. Die Flüchtlinge brauchen die Möglichkeit, sich selbst eine Existenz aufzubauen, unabhängig davon, ob sie hier für immer bleiben können oder wollen. Dazu gehört vor allem ein Job, eine richtige Arbeit. Das hat auch viel mit dem eigenen Selbstwert zu tun. Viele empfinden es als Demütigung, vom Staat finanziert zu werden. Und aus der Erfahrung in Strackholt wünsche ich mir auch, dass die Aufnahme zentraler geregelt wird. Im Moment werden die Menschen in Niedersachsen zunächst in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht und danach für die Dauer ihres Verfahrens auf die Gemeinden verteilt. Aber so geraten die Flüchtlinge in Vergessenheit, niemand fühlt sich verantwortlich, nur wenige kümmern sich, wenn sie irgendwo am Ortsrand in sonst leerstehenden Häusern untergebracht werden. Das führt zu gesellschaftlicher Isolation und Ausgrenzung, was für die sowieso schon traumatisierten und unter enormen Druck stehenden Flüchtlingen kaum auszuhalten ist. Strackholt liegt mehr als 20 Kilometer von der Kreisstadt entfernt. Das Sozialamt, Ärzte, Sprachkurse, Jobs, alles ist für sie nur sehr schwer zu erreichen. Den Bus können sich Flüchtlinge auf dem Land nicht leisten und diese Distanz bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad zurückzulegen, ist eine Zumutung. Eine zentrale Unterbringung, ein Ort, an dem alle Behörden und Institutionen, medizinische Versorgung und Sprachkurse konzentriert wären, könnte dieses Problem lösen und wäre auch noch effizienter und vor allem menschlicher. Wenn die Flüchtlinge dann ihre Papiere erhalten, wissen sie schon, wo sie hingehen und sich bewerben können. Sie haben vielleicht schon Sprachkurse oder ein Praktikum gemacht, kennen das Jobcenter und haben ein Gefühl für unsere Behördenlandschaft bekommen. Sie müssten nicht ihre Zeit verschwenden und ihnen würden viele negative Erfahrungen erspart. Ich glaube es ist ein großer Fehler die Menschen gerade in der Anfangsphase so alleine zu lassen, denn dadurch entsteht viel Frustration, was uns später auf die Füße fallen wird. Also besser gleich richtig investieren und eine gute Integration ermöglichen, als nachher die Scherben zusammenzukehren. Aber da hat die Politik bisher versagt.

Das Interview führte Doris Bandhold